Die Akte «PMEDA» - ein Trauerspiel über alle Instanzen
«Schwierige Fälle führen zu schlechter Rechtsprechung». Ein Sprichwort aus dem Jahr 1837, das auch heute noch Geltung beanspruchen kann.
Hintergrund
Wer nach einem Unfall oder wegen einer schweren Erkrankung nicht mehr arbeiten kann, kann sich bei der Invalidenversicherung (IV) für eine Rente anmelden. Die Arbeitsunfähigkeit wird in komplexen Fällen häufig mithilfe eines medizinischen Gutachtens abgeklärt.
Die PMEDA AG (in Liquidation) wurde 2013 gegründet. In den Jahren 2013 bis 2022 erstellte sie im Auftrag der Invalidenversicherung bi- und polydisziplinäre Gutachten, also Expertisen in komplexen medizinischen Fällen mit zwei oder mehr Fachrichtungen. Insgesamt waren das ungefähr 2'500. Kostenpunkt: ungefähr 26.7 Millionen Franken. Für die erstellten Gutachten stand die PMEDA immer wieder in starker Kritik: Betroffene, behandelnde Ärzte/Ärztinnen und Anwälte/Anwältinnen haben die Gutachten jahrelang bemängelt. Seit Jahren wurden Gerichtsverfahren mit den Argumenten geführt, dass die Gutachten fehlerhaft, unwissenschaftlich und nicht nachvollziehbar seien. Die Ärzte der PMEDA erklärten auffällig viele Menschen für gesund – und ersparten der Invalidenversicherung damit Zahlungen in Millionenhöhe. Gegen die PMEDA wurden mehrere Strafanzeigen eingereicht.
Qualitätsprüfungskommission (EKQMB)
Im Jahr 2022 wurde schliesslich eine Eidgenössische Kommission für die Qualitätssicherung der medizinischen Begutachtung gegründet – die EKQMB. Sie veröffentlichte am 7. November 2023 einen Überprüfungsbericht über die Gutachten der PMEDA AG der Jahre 2022/2023. Im Rahmen der Qualitätsüberprüfung wurden 32 zufällig ausgewählte Gutachten der PMEDA aus den Jahren 2022 und 2023 analysiert. Ergänzend wurden mehrere Beschwerdefälle im Zusammenhang mit Gutachten der PMEDA AG ausgewertet. Die Untersuchung der Gutachten offenbarte gravierende formale und inhaltliche Mängel. Angesichts der zahlreichen Defizite in den analysierten Gutachten, ergänzt mit dem Blick auf Beschwerdefälle seit 2013, empfahl die EKQMB den Auftragsvergabestopp an die Gutachterstelle PMEDA AG.
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
Das Bundesamt für Sozialversicherungen setzte diese Empfehlung gleichentags um. Sie teilte im Herbst 2023 mit, dass die Invalidenversicherung in Zukunft nicht mehr mit der PMEDA zusammenarbeiten werde. Die Behörde folgte damit der Empfehlung der Kommission (EKQMB).
Das Bundesamt hat die IV-Stellen somit angewiesen, bereits vorliegende Gutachten der PMEDA einer erneuten Qualitätskontrolle zu unterziehen, wenn im konkreten Fall noch kein rechtskräftiger Leistungsentscheid vorliegt. Rechtskräftige Leistungsentscheide bleiben jedoch gemäss ausdrücklicher Anweisung des BSV bestehen.
Bundesgericht (Urteil 9F_18/2023 vom 19. Juni 2024)
Ein Versicherter beantragte gestützt auf die Empfehlung der EKQMB, dass sein IV-Entscheid – entgegen der Anweisung des BSV – zu revidieren sei. Sein IV-Entscheid basiere nämlich auf einem Gutachten der PMEDA. Er verlangt die Zusprache einer Invalidenrente. Die Revision wurde abgewiesen.
Das Bundesgericht führt dazu aus, dass die Qualitätsanalyse der EKQMB primär auf Stichproben von PMEDA-Gutachten aus den Jahren 2022 und 2023 beruhe. Dabei sei hauptsächlich die Kompatibilität der entsprechenden Gutachten mit den zum damaligen Zeitpunkt gültigen rechtlichen Leitlinien und Standards untersucht worden. Seit 1. Januar 2022 gälten hierfür – gegenüber den Vorjahren – neue, präzisierte Vorgaben. Auf abgeschlossene Fälle vor dem 1. Januar 2022 sei der Bericht somit nicht massgebend.
Vergleicht man jedoch die massgebenden Gesetzesartikel und Standards vor und nach dem 1. Januar 2022, gelangt man zum Schluss, dass keine neuen Standards gelten. Die von der Kommission an den Gutachten bemängelten Punkte waren auch schon vor dem 1. Januar 2022 Gutachtenstandards.
Die ungefähr 2'500 PMEDA-Gutachten aus den Jahren 2013 – 2022 will folglich auch das Bundesgericht nicht mehr aufrollen. Dass hierbei auch Kosten- und Kapazitätsfaktoren der Behörden und Gerichte mitberücksichtigt wurden, lässt sich wohl kaum leugnen.
Ergebnis
Die PMEDA AG befindet sich zwischenzeitlich in Liquidation. Es laufen Ermittlungen wegen Steuerhinterziehung, Steuerbetrug und Amtsgeheimnisverletzungen.
Die Ärzte, die für die «gravierenden Mängel» verantwortlich sind, dürfen weiterhin für die Invalidenversicherung tätig sein. Auf der aktuellen Liste der Sachverständigen-Zweierteams stehen mehrere Mediziner, die jahrelang für PMEDA gearbeitet haben.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen sieht keinen Handlungsbedarf. Die rechtskräftigen Leistungsentscheide, die gestützt auf ein Gutachten der PMEDA zustande gekommen sind, werden nicht neu aufgerollt und können nicht in Revision gezogen werden. Das Bundesgericht hat eine Prozesslawine erfolgreich abgeblockt. Ob diese Entscheidung mit einem Rechtsstaat vereinbar ist, wage ich zu bezweifeln. Die Augenbinde der Göttin Justitia symbolisiert diesmal eher weniger das gleiche Recht für alle, sondern eher ein Augenverschliessen vor Fehlern der Verwaltung und damit verbundenen Institutionen.
Das von den Gerichten in die medizinischen Gutachter gesetzte Vertrauen nimmt seit Jahren zu. Die Qualität der Gutachten und die darin gestellten Diagnosen sind jedoch häufig unhaltbar. Es fehlen die Kontrollen der Gutachten, die Konsequenzen für fehlbare Ärzte und die beharrliche Aufarbeitung der unter solchen Bedingungen zustande gekommenen Leistungsentscheide. Eine Einzelperson kann sich nur schwer gegen ein schlechtes Gutachten wehren. Für ein umfangreiches Zweitgutachten fehlt den Betroffenen in dieser finanziellen Ausnahmesituation häufig das Geld, aber auch die Kraft und Ausdauer.
Es braucht eine politische Aufarbeitung des PMEDA-Skandals und ein Hinterfragen des Systems der medizinischen Gutachten. Häufig liegen mit den Berichten der behandelnden Fachärzte verlässliche medizinische Einschätzungen vor. Diesen Berichten von vornherein jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen ist fatal und einer der Fehler im heutigen Sozialversicherungssystem.